"Die moderne Gesellschaft ist eine Art Paradies. Das kann niemand bestreiten. Die allermeisten von uns müssen ihr Essen nicht selbst anbauen oder töten, müssen ihre Behausungen nicht selbst errichten oder sich gar wilde Tiere und Feinde erwehren. An einem einzigen Tag können wir tausend Meilen reisen, indem wir mit dem Fuß auf ein Gaspedal drücken, oder die ganze Welt umrunden, indem wir uns einen Sitzplatz in einem Flugzeug buchen. Wenn wir Schmerzen haben, sind Narkotika zur Hand, die ihnen den Garaus machen, und wenn wir deprimiert sind, stehen Pillen zur Verfügung, die auf die Chemie unseres Hirns einwirken. Wir haben enorme Kenntnisse über das Universum angeeignet, von subatomaren Partikeln über unseren eigenen Körper bis hin zu Galaxiehaufen und wir nutzen diese Kenntnisse um unser Leben zu verbessern und zu erleichtern. Die ärmsten Menschen in der modernen Gesellschaft erfreuen sich eines Niveaus physische Annehmlichkeiten, dass vor 1000 Jahren unvorstellbar war, und die reichsten Menschen leben buchstäblich so, wie wir uns das Leben der Götter vorgestellt haben. Und doch. Die moderne Gesellschaft hat einen hohen Preis, angefangen bei dem Schaden, den sie den globalen Ökosystem zufügt, und weiterhin zu dem Tribut, den die menschliche Psyche zahlen muss. "
Doch den gefährlichsten Verlust muss vielleicht die Gemeinschaft hinnehmen.
„Entbehrungen machen dem Menschen nichts aus, er ist sogar auf sie angewiesen; worunter er jedoch leidet, ist das Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Die moderne Gesellschaft hat die Kunst perfektioniert, Menschen das Gefühl der Nutzlosigkeit zu geben. Es ist an der Zeit, dem ein Ende zu setzten.“ Sebastian Junger.
Warum beschließen Soldaten nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg und in die Heimat, sich zu neuen Einsätzen zu melden? Warum sind Belastungsstörungen und Depressionen in unserer modernen Gesellschaft so virulent? Warum erinnern sich Menschen oft positiver an Katastrophen als an Hochzeiten oder Karibikurlaube? In einem viel diskutierten Buch Tribe erklärt Sebastian Junger, was wir von Stammeskulturen über Loyalität, Gemeinschaftsgefühl und die ewige Suche des Menschen nach Sinn lernen können.

Als ich das auf dem Rückendeckel des Buches las, malte sich mein Verstand seine Antworten bereits aus und konnte sich aber nicht vorstellen, weshalb sich Soldaten freiwillig zu neuen Einsätzen melden sollten. Schließlich kennen wir aus Erzählungen, Büchern und Fernsehen, dass kaum etwas schlimmeres vorstellbar sei, als der Krieg. Sehr skeptisch, aber neugierig las ich, welchen Blickwinkel der Autor vorstellte.
Und plötzlich ergab dieses Buch für mich eine Sichtweise, die eigentlich recht logisch ist.
Als nicht-Karl-May-Leser hab ich im Grunde damit einen tieferen Einblick in die kleinen Indianervölker bekommen, die es heute kaum noch gibt und die Zahl stetig sinkt.
Diesen Teil fand ich super spannend, denn der Autor erklärt das Thema nicht wie man es aus Schulbüchern oder gängigen Dokumentationsfilmen her kennt. Vieles an Wissen das er teilt, war mir so nicht bekannt.
Besonders lehrreich war für mich, woran es liegt, dass Traumas und Depressionen der Veteranen nicht (oder nicht nur) am zurückgelassenen Schlachtfeld liegt, sondern vielmehr den Wiedereintritt in die Gesellschaft betreffen.
Kann es wirklich sein, dass die Menschen zu Friedenszeiten unzufriedener sind und wenn ja, woran liegt das und was können wir von alten Indianervölkern lernen?
Liegt es an dieser kapitalistischen Gesellschaft, die uns gewisse Werte nicht beigebracht hat, sondern nur, wie man einen Zaun um sein Besitztum zieht aus Angst davor, jemand könnte ihm etwas weg nehmen?
Entsteht dadurch Einsamkeit? Isolation? Depression? Bindungsängste und viele andere moderne psychische Diagnosen?
Ich denke, es gibt viele weitere Gründe weshalb die Menschen in unserer Gesellschaft zu Friedenszeiten so unzufrieden sind und habe ein paar interessante Stellen raus geschrieben:
"Kein Mensch kann glücklicher leben als die Indianer es zu Friedenszeiten taten... Ihr Leben war eine fortwährende Aneinanderreihung von Vergnügungen."
Im Verlauf von drei Jahrhunderten entwickelte Amerika sich zu einer boomenden Industriegesellschaft, gespalten durch Klassenunterschiede und Rassenungerechtigkeit, aber zusammengeschweißt durch ein Gesetzeswerk, vor dem alle Menschen zumindest theoretisch als gleich angesehen werden.
Die Indianer dagegen lebten gemeinschaftlich in mobilen oder halbstationären Lagern die mehr oder weniger konsensorientiert und weitgehend egalitär geführt wurden. Niemand konnte individuelle Autorität einfach an sich reißen, sie musste verdient werden. Ausgeübt werden konnte sie einzig gegenüber den Menschen, die bereit waren, sie anzunehmen. Wer das nicht wollte, dem stand es frei zu gehen.
Die Nähe dieser beiden Kulturen über viele Generationen bot der einen wie der anderen Seite die Wahl zwischen krass unterschiedlichen Lebensweisen. Zum Ende des 19 Jahrhunderts wurden in Chicago Fabriken errichtet, und in New York entstanden die ersten Slums, während die Indianer 1000 Meilen entfernt noch mit Speeren kämpften. Was sagt es wohl über die menschliche Natur aus, dass eine überraschend hohe Anzahl von Amerikanern, hauptsächlich Männern, sich irgendwann indianischen Gesellschaften anschlossen, statt in ihre eigenen zu bleiben. Sie eiferten den Indianern nach, heiraten, wurden von ihnen adoptiert und kämpften in einigen Fällen sogar an ihrer Seite.
Das Gegenteil geschah so gut wie nie: Indianer liefen nie über, um Mitglieder der weißen Gesellschaft zu werden. Emigration schien ausschließlich der Zivilisierten zur Stammesgesellschaft stattzufinden, und westliche Denker konnten sich eine so deutliche Ablehnung ihrer Gesellschaft beim allerbesten Willen nicht erklären.
Die westlichen Gesellschaft stellt sich nicht nur die Frage, warum das Stammesleben von außen betrachtet so attraktiv wirkt, sondern warum sie selbst so unattraktiv ist. In materieller Hinsicht ist sie eindeutig komfortabler und erspart den Menschen so manche Entbehrungen, die ein Leben in der Natur mit sich bringt. Doch je wohlhabender eine Gesellschaft wird, desto mehr neigt sie dazu, der einzelnen nicht weniger, sondern mehr Zeit und Engagement ab zu verlangen und möglicherweise sind viele Leute der Meinung, dass Wohlstand und Sicherheit kein guter Ansatz für Freiheit sind.

Viele kulturübergreifende Studien haben gezeigt, dass die moderne Gesellschaft - trotz ihrer beinahe an Wunder grenzenden Fortschritte auf den Gebieten der Medizin, Wissenschaft und Technik - mit so vielen Fällen von Depression, Schizophrenie, schlecht im Allgemeinen Gesundheitszustand, Angststörungen und chronische Einsamkeit zu kämpfen hat, wie kaum je zuvor in der Menschheitsgeschichte. Wenn Wohlstand und Urbanisierung einer Gesellschaft zu nehmen, steigen Depression und Selbstmordraten in der Regel eher, als dass sie sinken. Statt die Menschen vor klinische Depression abzuschirmen, scheint der höhere Wohlstand in der Gesellschaft sie sogar zu fördern.
Laut einer globalen Untersuchung durch die Weltgesundheitsorganisation WHO leiden die Menschen in reichen Ländern achtmal so oft an Depressionen wie die ärmeren Ländern, und Menschen in Ländern
mit großen Einkommensunterschiede - wie in den Vereinigten Staaten - sind lebenslang dem Risiko ausgesetzt, Opfer starker affektiver Störungen zu werden. In einer Studie aus dem Jahr 2006, in der
die Depressionsrate in Nigeria mit denen die Nordamerika verglichen wurden, wurde festgestellt, dass für Frauen aus ländlichen Regionen die Wahrscheinlichkeit, von Depressionen heimgesucht zu
werden, generell niedriger ist als für die ihre städtischen Geschlechtsgenossinnen.
Gut.
Dass für ein erfülltes Leben ohne Burnout und Depression eine verlässliche kleine Gemeinschaft in der Natur förderlicher ist, als der Wohlstand der Stadt gepresst in eines der Wohnblöcke, ist
jedem soweit klar, denke ich.
Und trotzdem wird versucht uns täglich mit Werbung zu vermitteln, dass wir konsumieren müssen, um glücklich zu werden. Sollte das nicht helfen, geht man zum Arzt, der eine Schublade voll mit
Wunderpillen hat.
Doch wie war das mit den Soldaten die so scharf auf Krieg sind?
Mein Kopf bewertet diese Menschen gleich mit Wörtern wie „krank“, „die sind ja völlig gehirngewaschen“, „die haben scheinbar kein Trauma mit genommen“...
Damit liege ich vielleicht nicht immer verkehrt, aber darin liegen tatsächlich auch andere Gründe, wie das Vermissen von Kameradschaft und Zusammenhalt oder das Gefühl von Gebrauchtwerden...
"... Das Gefühl genoss ich sehr... Dass es keine Konkurrenz gab, keine Beschränkungen und keine von diesen vielen verlogenen Vorschriften, eben das liebte ich an der Army..."

Das gegenwärtige Amerika ist eine säkulare Gesellschaft, die natürlich nicht einfach bei der indianischen Kultur Anleihen machen kann, um die eigenen psychischen Wunden zu heilen. Aber vom Geist der Gemeinschaft Heilung und der Verbundenheit, der die Basis dieser Zeremonien bildet, sollte sich eine moderne Gesellschaft durchaus inspirieren lassen.
In allen Kulturen hat man Zeremonien geschaffen, um die Erfahrung einer Menschengruppe der erweiterten Gemeinschaft zu übermitteln. Wenn Menschen geliebte Person begraben, wenn sie heiraten, wenn sie ihren Schulabschluss machen, vermitteln die entsprechenden Zeremonien den Menschen etwas essentiell wichtiges.
Der Öffentlichkeit wird oft vorgeworfen, keine Verbindung zum ihrem Militär zu pflegen, aber ehrlich gesagt pflegt sie eigentlich zu nichts eine Verbindung. Landwirtschaft, Mineralgewinnung, Gas und Öl Produktion, Massengutbeförderung, Holzfällerei, Fischfang, Schaffung von Infrastruktur - sämtliche Industrien, die für das Leben der Nation sorgen, werden von Menschen, die am meisten auf sie angewiesen sind, nicht anerkannt.
Wie groß das Opfer auch ist das Soldaten bringen, die amerikanischen Arbeiter bringen wohl ein größeres. An ihren gefährlichen Arbeitsplatz lassen jedes Jahr viel mehr Amerikaner ihr Leben, als im gesamten Afghanistan Krieg gefallen sind. 2014 z.b. verloren 4679 Arbeiter ihr Leben bei der Arbeit.
Ich weiß wie es ist, aus einem Krieg die Kriegsgebiete nach Amerika zurück zu kommen, weil ich es oft erlebt habe.
Zuerst findet man eine Art Schock über das Maß an Komfort und Wohlstand, dass wir genießen, aber darauf folgt die finstere Erkenntnis, dass wir in einer Gesellschaft leben, die im Grunde mit sich selbst im Krieg liegt. Die Menschen sprechen - abhängig von ihren Ansichten - mit unglaublicher Verachtung über die Reichen, die Armen, die Gebildeten, die im Ausland geborenen, den Präsidenten oder die gesamte Regierung. Ein solches Maß an Geringschätzung bleibt normalerweise Feinden in Kriegszeiten vorbehalten, aber jetzt wird es auf unsere Mitbürger bezogen. Anders als Kritik ist Geringschätzung besonders übel, weil sie den Sprecher moralisch Überlegen sind.
Heutzutage stellen viele Veteranen nach ihrer Heimkehr fest, dass sie zwar willens sind, für Land zu sterben, aber nicht wissen, wie sie dafür leben sollen.
Zusammenfassend beschreibt Junger, dass die Psychosen und Selbstmordraten von Veteranen nicht nur auf traumatische Erlebnisse zurück zu führen ist, sondern dass sie in unserer wohlhabenden, westlichen Gesellschaft nicht mehr zurecht kommen. Ihnen fehlt das Gefühl von einem gemeinsamen Ziel, etwas wonach eine Gemeinschaft strebt und besonders das Gefühl, dass seine Talente und Fähigkeiten gebraucht werden.
So wurde auch mir erst bewusst, dass es gar nicht unbedingt an der Kampflust vieler Männern liegt, die ihre Energien und den angestauten Frust irgendwo raus lassen müssen, sondern auch eine
Gemeinschaft oder eine Gruppe welcher Art auch immer, dafür ausreichen würde, wenn die Fähigkeiten von Männer, sowie von Frauen, gebraucht und wertschätzende Anerkennung erhalten.
Dazu ist kein Krieg notwendig, sondern wie Günter Voelk von der Gesellschaft für Potentialentfaltung beschreibt; eine „liebevolle, empathische Gemeinschaft in der jeder sein Potenzial entfalten kann“.
Junger beschreibt außerdem, dass es für Veteranen möglich sein muss, dass jeder der den Krieg mit erleben musste, seine persönlichen Erlebnisse öffentlich und frei erzählen zu können, statt sie lebenslang unverdaut mit sich alleine zu schleppen.
Manche werden sagen, der Krieg sei das Beste gewesen, was sie erlebt haben. Andere werden so zornig sein, dass man kaum versteht, was sie sagen wollen. Noch andere wiederum würden vielleicht so heftig weinen, dass sie nicht sprechen könnten. Aber eine solche Gemeinschaftszeremonie würde endlich die Erfahrung des Krieges an unsere ganze Nation zurück tragen und sie nicht nur den Menschen überlassen die gekämpft haben.
Auf dem Workshop für Potentialentfaltung wird es zwar mit einem afrikanischen Dorf verglichen, ist aber im Grunde genauso dargelegt.
Egal ob bei einem indianischen Volk, in einem afrikanischen Dorf, Kriegsbeteildigte, einer Gemeinschaft oder einer anderen Menschengruppierung, sollte es eine Möglichkeit geben, in regelmäßigen Abständen oder im akuten Fall, seine Erfahrungen, Verletzungen und Emotionen mitteilen zu dürfen.
Über die Arbeit wird noch genauer berichtet... :)
"Warum richtet man die Aufmerksamkeit darauf, wie sehr man sich voneinander unterscheidet, und nicht auf Dinge, die uns verbinden?!"

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